Ständige Kommission für aktive Mitarbeit aller offen

LVZ war am Sonnabend beim Rathausgespräch mit dabei

Was bringt es, zu einer Gesprächsrunde, bei der es um Frage und Antwort, Rede und Gegenrede geht, zu erscheinen und dann als einzige Äußerung ab und zu ein bitterböses „Pfui!" von sich zu geben? Manch bittere Wahrheit müssen sich in diesen Tagen Funktionäre sagen lassen. Das hat Gründe. Wer das Rathausgespräch am Sonnabend erlebt hat, weiß, daß auf sachliche, ja emotional bewegt vorgetragene Anfragen möglichst sachlich geantwortet wurde. Fehler wurden bekannt, Wege und Möglichkeiten, Auswege aus der Sackgasse diskutiert. Doch von einigen wenigen dies oft nur mit „Pfui!"-kommentiert. Und unter ebensolchen Rufen verließen rund zehn Prozent der Gesprächsteilnehmer kurz vor Schluß der Veranstaltung den Saal, als eine junge Genossin aus dem NVA-Ausbildungszentrum nochmals daran erinnerte, wie Eltern auf dem Dresdner Hauptbahnhof mit dem Leben ihrer Kinder va banque gespielt haben, um den Ausreise-Zug besteigen zu können. Akzeptanz der Meinung des anderen?

Doch zur Gesprächsrunde selbst, der sich neben dem 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Gerhard Kießling, dem Ratsvorsitzenden Lothar Elze und Bürgermeister Karl Lubienski auch Superintendent Heinrich Behr von der evangelischen Kirche sowie der Vorsitzende des CDU-Kreisvorstandes Michael Czupalla stellten. Der Kritik Lothar Elzes an der Kreispresse, daß in der Veranstaltungsankündigung der Superintendent ausgespart wurde, folgte Beifall und unsererseits hier eine Entschuldigung. Dann die Aufforderung des Ratsvorsitzenden an die Vertreter der Kirche, aktiv in den ständigen Kommissionen des Kreistages, der Stadtverordnetenversammlung sowie der Räte der Gemeinden mitzuarbeiten: "Diese Kommissionen sind offen für die Mitarbeit aller alternativen Gruppen."

Kommunalpolitisches war dann erstmal Anfrage-Trumpf. Roßplatz- und "Weißes Roß" -Kritiker meldeten sich zu Wort. Tenor des ganzen: Was, ihr gemacht habt, ist alles Unsinn. Die Frage, aber stand im Raum: Wo waren diese Bürger bei den …zig Rathausgesprächen, und Diskussionsrunden zu diesem Thema vor dem Beginn der Bauarbeiten? Doch es gab auch Beifall für Karl Lubienski, der verwies, daß offene Gesprächsrunden im Rathaus, u.a. zum Thema Roßplatz, seit Jahren gang und gäbe sind, nur vom Publikumszuspruch her nie mit den derzeitigen zu vergleichen waren.

Der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung bekannte sich offen zu begangenen Fehlern: "Die jetzt so freimütigen Gespräche zeigen mir, was wir früher versäumt haben". Sein Standpunkt: auf dem Geschaffenen jetzt aufbauen und zu einer neuen Gesellschaftsstrategie kommen. Geteilt waren die Meinungen im Saal zu seinem Appell, die Demonstrationen in Leipzig zu beenden.

Er sei dankbar, daß sich der Geist im Lande, der der Führung gegenüber der Kirche geändert habe, meinte Superintendent Behr. Weiter sagte er: "Ich denke, daß wir Oppositionsgruppen brauchen, beispielsweise das ´Neue Forum´." Michael Czupalla äußerte u.a.: "Als CDU-Mitglied fühle ich mich für das, was heute hier kritisiert wird, mitverantwortlich. Vieles wird sich in unserer Partei ändern, aber wir werden keine Opposition zum Sozialismus darstellen."

Mehrfach wurde in die Diskussion geworfen, daß in den Betrieben des Kreises noch nichts vom "neuen Wind" und der Wende zu spüren sei. Doch auch diese Meinung eines Kollegen des VEB Kraftverkehr sei zitiert, der sich zu den Leipziger Demonstrationen und der ihnen innewohnenden Gefahr einer Eskalation der Gewalt von beiden Seiten zu Wort meldete: "Was bringen denn jetzt noch solche Demonstrationen? Es ist doch nicht alles nur Dreck, was wir in 40 Jahren geschaffen haben".

Ergebnisse lagen am Schluß in dieser Hinsicht vor, daß in einigen Fällen die Prüfung von unwürdiger Behandlung Ausreisewilliger bzw. deren hiergebliebener Verwandten versprochen wurde. Andererseits gibt es nun regelmäßig mittwochs von 17 bis 19 Uhr im Rathaussaal Diskussionsrunden zu kommunalpolitischen Fragen und samstags von 10 bis 12 Uhr zu solchen der Gesellschaftsstrategie.

LVZ, 31.10.1989


Wurde Herr Czupalla gezwungen, derartige Worte in der Öffentlichkeit zu verkünden?

Ob der Herr Landrat wohl inzwischen seine Meinung geändert hat?

10.04.2003